Ich seh dich
Du atmest laut und schwer
doch unhörbar
deine Fassade unzerstörbar
deine Gedanken unüberhörbar
Hinter deiner Stirn hängen stumm
vergilbte Bilder aus Erinnerung'
Erinnerung an wie's früher mal war
Wie du und er
mit kristallklarer Haut
ein hölzernes Haus
am Rande eines glitzernden Sees erbaut
Auf dem See
schwimmen im Sommer prächtige
Seerosenblüten in allen Formen und Farben
denn eine alte Seerosensage verlas
dass Seerosenblüten dich und deine Familie behüten
und sie bringen Glück -
Ich dreh die Zeit zurück
Zurück zum Ort zeitenlosen Glücks
Bei der Geburt legtest du ihr die zarteste Rose
in die Wanne
in der Hoffnung, dass sie alles Böse verbanne
Ich seh dich
wie du see-, wie du see- wie du see-
wie du rosa Seerosen pflückst
sie mit kleinen, roten Fingern
im Morgenspiel zerdrückst
Wie du ste -
wie du ste -
wie du da stehst -
unwiderstehlich
Ich seh dich
wie du dich dre -
wie du dich dre -
wie du dich der -
wie du dich umdrehst
Wie du im Mondglitzerschein
dein Silberhaar kämmst
deine Hand tief fischt
bis sie eine Seerose fängt
deine Lippen
im Seerosenrot tränkt
Du trägst täglich
Seerosenduft
Du atmest nächtlich
Seerosenluft
Am Sommerrosensee
erzählst du seit eh und je
Geschichten über Rosenkriege und
schaukelst die rostige Rosenwiege
Ihre Knollen liegen lang verschollen
unter alten Algenwellen
da schnellen Fische wie Blitze
am gezähnten Blattrand
entlang - Frösche spielen
Seerosenfangen
Du hast einmal gehört,
dass junge Seerosen
unter Wasser reifen
da kannst du‘s nicht
verkneifen - bis heute nicht
begreifen - aber
eines Nachts liegt es da
so leichenweiß und steif
du weißt nicht, warum
es schreit - drum hältst du‘s
eine Zeit nur
unter Wasser getaucht
bis das Beinchen nicht mehr haut
bis du‘s plötzlich nicht mehr halten
brauchst
So ist es nun den Sternen anvertraut
Du weißt, es gibt tag- und nachtblühende Arten
vielleicht musst du einfach warten
bis ein neue Blume das Licht der Welt erblickt
und dir dein Herz in Seerosenform zurückschickt
Ich seh dich
Im Winter malst du auf Seerosenblättern
Seerosenbilder von Seerosenkindern
du bastelst Seerosenschilder
die den Weg zum Wasser weisen
wenn die schmalen Pfade eisen
Ich seh dich
wie du da wei
wie du da wie -
wie du da weinst
weil die süßen Seerosen welken
Deine Finger werden älter
deine Stimme die wird kälter
und die letzte Blüte kriecht
zum Ende deiner Hände
Sie segelt zu Boden
du erblickst ein letztes Mal
die rosawarmen Wogen
oben - fällt eine Seerosenschnuppe
Du fängst sie auf
bastelst im Traum
eine Seerosenpuppe aus weißem Schaum
und Sternenblütenstaub
Du liegst in einem Seerosensarg
die letzte Rose die du sahst
die fand man grau verknittert
in weißer Hand
steckt nun sanft auf seidnem‘ Samt
auf Ewig in den Seerosenhimmel
verdammt
Eine letzte Frage hast du an die Welt
ob dein Geist ebenso
als Seerosenschnuppe vom Himmel fällt
oder ob er im Seerosenregen zerschellt.
Ich seh dich
Du atmest laut und schwer
doch unhörbar
deine Fassade unzerstörbar
deine Gedanken unüberhörbar