SPIEGELWILD

 

 

Die Nacht fährt ihr unter die Haut. Sie  hebt den Blick entschlossen an und fixiert vorsichtig ihr ovales Gesicht in allen Zügen : wie zarte Sandhügel windet sich ihr Wangenfleisch behutsam um die hochgestellten Knochen, unterstreicht ihre weichen, schon lila untermalten Lider, akzentuiert dabei gleichermaßen den caramelfarbenen Strudel, der sich aus dem Zentrum ihrer Augäpfel direkt in ihr Innerstes ergießt. Ihr ganzer Schmerz spiegelt sich in diesem gläsernen Augenblick und scheint durch die gegenwärtige Reflexion doppelt so stark potenziert auf sie zurückzuschnellen. Wie ein Donnerschlag durchzieht ein wildes Zucken ihre Magenwände. Ein kurzer Ruck, dann ruht ihre linke Hand samt und schützend auf ihrer Bauchdecke, welche sich von der körpereigenen Wärmezufuhr besänftigt, in nun stetig gleicher Kadenz hebt und senkt. Einatmen - Ausatmen. Was banal klingt, kann wundersame Wirkung tragen. So hatte sie es gelernt. Diese Berührung löst in ihr etwas aus, was monatelang unmöglich schien: Sie ist eins. Wieder eins mit sich selbst. Hatte sich zuvor jeder Kontakt ihrer zierlichen Finger auf ihrer bloßen Haut fremd und eigenartig angefühlt, wie als wäre ihr Greifapparat ihr nicht mehr länger zugehörig, mechanisch und abgekoppelt von ihrer Selbst, so vermittelte der sanfte Druck ihrer Fingerkuppen ihr in diesem Moment ein Gefühl von Sicherheit. [...]. Sie beginnt zu träumen, von grünen Bäumen, die ihren Weg säumen. Sie geht Hand in Hand mit jemandem, der gut 20 Nasenspitzen größer ist als sie. Mit wem, können wir nicht sehen.

 

Sie presst noch einmal, die in ihr wütende, stickige Luft nach außen und wagt einen letzten verstohlenen Blick. Sie vernimmt, ihrem heißen Atem geschuldet, einen blassrundlichen Fleck auf der Scheibe, die sie seit 20 Minuten mit weit aufgerissenen Augen anstarrt. Beim nächsten Wimpernschlag verschwindet der Fleck allmählich. Ihre Augen senken sich eine Etage tiefer.  Wulstige Narben schmücken ihren langen, geraden Hals. Ihre  Stimmlippen beginnen sich zu weiten, während ihre spröden, rosa Lippen vergeblich versuchen Laute zu formen, doch lediglich ein spitzes Gellen entrinnt der heisernen Kehle. Zwecklos, wie als schrie sie gegen einen tosenden, gewaltigen Wasserfall an. Ein Wasserkonglomerat aus Tränenausaaten pocht schwellend gegen ihre wunden Augenhöhlen. Ein Gedankenstrudel sprudelt wie eine Flut aus wiederbelebten Emotionen aus ihrer Schädeldecke und erschüttert ihr gesammltes Gedankengut, gleich einem Sturm, der stehende Gewässer aufwühlt. Tropfennasse Tränen rennen jetzt brennend über ihr kaltblasses Gesicht und hinterlassen eine klebrige Spur aus Melancholie und Selbstverachtung. Ein Schluchzen aus Wut und Trauer grollt fast unhörbar aus ihrem Rachen. Würde ihr Leben einen Untertitel tragen, lautete er: verarscht und dennoch gesegnet. [...] Der breitkronige Kirschbaum ragt  mit seinen hochgewachsenen acht Metern zwischen all den grauen, wüsten Betonplatten willkürlich, fast romantischsüß aus dem lehmigen Sandboden hervor und sticht sie mitten ins Herz.  Sein langes, weißes Kleid, lässt sie die Jahreszeit erraten und weckt die Erinnerung an das tiefrote zuckrige Fruchtfleisch, das bei jedem Biss einen leicht-zähen Widerstand aufweist und dann im Mund blutrot nach allen Seiten hin zerfließt. Der Boden beginnt sich zu drehen. Sie fällt mit der blauen Flasche in der Hand. Bevor der Geruch des Meeres ihre Nasenflügel sanft kitzelt, erblickt ihre Iris im Zwielicht der Gitterstäbe ein letztes Mal die blauweiß-gestreiften Vorhänge.