ANALNOVELLE - ANACHRONE AUSZÜGE

KAPITEL I

 

Hast du meinen Kranich gesehn? Meine Finger zerwühlten nervös die Papierstapel. Auch ich wurde langsam nervös. Welche Farbe hat er denn? – Blau. Allein bei der bloßen Verlautung des Wortes Kranichs stieg in mir ein Gefühl empor, dass ich lieber zu vermeiden suchte. Es klang so rabiat, so rigide, so rational. Ich fühle mich immer so vernünftig, wenn ich Kraniche falte. Meine Stimmbänder grummeln angestrengt. Dabei ist das keine vernünftige Tätigkeit. João reicht mir mit einem trockenen Schmunzeln einen dampfenden Teller. Er hatte Recht. Origami-Kraniche am Samstagabend zu falten, war alles andere als vernünftig. Es waren buntpappene Piepmatzimitate, die nach der Fertigstellung an einen weißen Faden gehängt wurden und bei Gelingen von den erstaunten Besuchern das Prädikat "süß" oder "ach, wie originell" erhielten und später in einer alten Erinnerungskiste unter dem Bett landeten, die nur an Weihnachten und besonders nostalgischen Tagen ausgepackt wurde.

KAPITEL

Ramiro

Sein Tag beginnt im Liegen. Dort wo seine Träume im Kopfkissenschweiß versiegen. Er ohne sie aufsteht und sie die Schlummerfunktion wählen. Anschließend im Bahnabteil Nummer 6 versucht er sie sitzend wieder einzufangen, einzuordnen, zuzuordnen, für Zukünftiges zu horten. Das Jetzt war noch zu früh für später. Die Gedanken mussten ja erst einmal heranreifen und erst dann schlupfen, wenn sie überlebensfähig geworden waren, gefiedert und mit einem Überlebensinstinkt ausgestattet, bereit für die Wildnis – into the wild. Die überdurchschnittlich lange Brutzeit bereitete ihm jedoch auch überdurchschnittliche Empfindlichkeitsstörungen und hinterließ Spuren von wachsenden Zweifeln in seinem Brustkorb. .

 

Ein kranker Vogel singt ach in meiner Brust -

Das Notizbuch saugt gierig die frische Tinte auf.

Ach, ich Jammerei.

 

Der Zug fährt mit einem langen Quietschen und gequältem Röcheln in den Bahnhof ein. Er nimmt die Rolltreppe. Schreitet geradewegs zur Tür, zieht sie auf und kehrt, eine Frau mit rosa Daunenjacke und Federhut vorbeilassend, wieder um. Zwei krampfhaft müde Finger fischen nach den Münzen, die er einen Moment später in die, vor seiner Nase ausgestreckten Handfläche legt, die ihm dann im Handumdrehen einen dampfenden Becher reicht. Die Haut über seinen Fingern entspannt sich. Die Wärme ließ das Blut wieder fließen.

Tagebucheintrag V

4 Dezember, nasskalt

 

Wir begrüßen uns mit Milchschaum um die Lippen. Wir sprechen über Joaos Flucht aus Sao Paolo und meinen Traum, einmal auf einem Schiff nach China überzusetzen, über Apfeltaschen, die Beatles und verpasste Gelegenheiten. Zwei Tickets bitte. Zwischen explodierenden Sternen und leuchtenden Farbklingen glieiten Joaos Finger in den Stoff meiner Hosentasche, auf der Suche nach einer Antwort. Mir bleibt das Popcorn am Gaumen kleben, ich lasse den Eimer fallen und verlasse hustend den Kinosaal. Hey alles klar bei dir? Keuchend stütze ich mich über das Waschbecken und betrachte mich mit aufgerissenen Augen. Was soll das? Was denn? Na das! Ich dachte du magst mich! Wir sind Freunde Joao. Sí! Freunde befummeln sich aber nicht! Ach nein? Nein! Seh ich etwa aus wie ne Schwuchtel? Das wollen wir ja mal sehen. Joao, oder Blauge, wie ich ihn heimlich nenne, fixiert mich mit seinem südseeblauen Blick, packt mein Kinn und presst die wellenförmigen Lippen auf meinen ausgetrockneten Mund. Gegen diese Sturmflut kam ich nicht an.

 

 

Tagebucheintrag XVII

3. Januar, Kaminfeuer

 

 

Ich rieb mir die sahnigen Parmesanstreifen mit einer Scherenbewegung von den Fingern und wusch mir mit dem Ärmel über die Stirn. Wie machte Jamie Oliver das nur. Mit einer geübten Geste entkorkte ich einen Côte de Nuits. Da bellte schon die Türglocke. Mein Magen wälzte sich in einem grummelnden Purzelbaum. Ich schritt mit weichen Knien und Zwiebelschalen unter der Sohle zu Tür. Der Türgriff fühlte sich rutschig an, aber es war meine Hand, die schwitze. Hastig rieb ich mir die nassen Hände am Hosenbein. Joao. Ramiro. Der blaue Ozean entblößte seine schaumweißen Zähne. Ich schaute ihn verstört an. Ha, Wie siehst du denn aus. Er wischte mir sanft über die Stirn und deutete auf den auf dem Boden zerstreut liegenden Käsereste

 

Kapitel X

 

Joao nahm an diesem Tag die Fähre nach Retzkow. Hielt auf der Hälfte des Steges inne und beobachtete die badenden Möwen. Es ging ein strenger Nordostwind und bunte Segel spannten sich, bereit die Brandung zu stürmen, am Horizont auf. Ein paar Gänse jagten durch die kalte Luft über die an den Salzwiesen grasenden Ochsen hinweg. Ein schmaler, einer Möwe nicht unähnlicher Vogel, tänzelte, auf ungewöhnlich dünnen Stelzen in der Gicht. Sahen so etwa Babymöwen aus? Er lachte, es gab keine Möwenbabys um diese Zeit.

 

 

Kapitel XI

 

In der Bibliothek regierte eine außergewöhnliche Leere diesen Sonntagmorgen. Nur ein paar bleiche Gestalten, von denen man, wenn man es nicht besser wüsste, meinen könnte, sie würden zum Inventar gehören saßen wie schief zusammengebaute Attrappen vor blau blinkenden Bildschirmen, welche die Ringe unter den schweren Lidern umso tiefer werden ließen.

 

 

Als Rámiro nach einer flüchtigen Nikotinfrischluftphase wieder seinen Platz einnahm und Chinesische Geschichte von den Anfängen bis zur Neuzeit nicht ohne ein stummes Stöhnen auf Seite 231 unter dem Kapitel Marco Polo kam nicht bis China?: Die Fundamentalkritik von Frances Wood aufschlug, stand da, in 12 fein säuberlich geschriebenen Füllfederlettern:

 

Lass uns reden.

 

 

Der Frost klebte energisch an seinen Schuhsohlen und der Wind trug den Rauch in hauchdünnen wabernden Kreisen davon. Seine Eingeweide stülpten sich nach außen. Die rechte Hand suchte schützend seinen Bauch. Die Anzeigetafel blinkte willkürlich orange und informierte, dass es heute keine Information gab. Eine ältere Frau beschwerte sich auffällig laut räuspernd über die kurzweilig von ihm ausgelöste Luftverschmutzung. 

 

 Lass uns reden über Abende von Morgen

 

Und Morgen von gestern.

 

Er verdrehte die Augen, nahm einen weiteren tiefen Zug, knüllte die Seite in der Faust zusammen und pfuschte sie hinter den Reißverschluss seiner Jackentasche.

 

Erst als er den Bus mit der alten Dame davon fahren sah, bemerkte er, dass es sich um die Dame in den rosa Daunen vom Morgen handelte.

 

Verdammt.

 

An diesem Abend kleidete sich die Sonne in einem leuchtenden Rot und verlieh dem Leuchtturm einen albernen Braunton. Ramiro hielt die letzten Strahlen in seiner Faust gefangen und blies kleine Rauchmännchen in die frostige Luft. Als er den blauen Stoffvorhang zuzog, fasste er einen längst entschiedenen Entschluss.