IN EINEM LAND UNSERER ZEIT

Er greift ein Huhn. Er braucht keinen Tisch, um es zu zersägen, rupfen, schlachten, wie man es auch nennen mag. Er packt einen alten Feuerwerkskarton, der auf einer Seite aufgerissen ist und legt das Huhn darauf, schlägt den Kopf mit einer gezielten Bewegung ab. Seine Frau Li Xing und sein Sohn Bin Bin stehen daneben. Er packt es senkrecht bei den Füßen. Hält es kopfüber. Fängt das Blut in einem weißen Eimer auf. Später wird es gerührt und in der Pfanne angebraten, eine Art Blutpudding daraus gemacht. Es ist kalt draußen. Im Hof steht ein Gebilde aus übereinander gehäuften Steinen, in die eine verwitterte Holztür eingearbeitet ist. Eine westliche Toilette kann er sich nicht leisten. Das Loch in der Erde muss reichen und es reichte ja auch schon immer. Nur im Winter wünscht er sich eine moderne Waschanlage. Doch erst, wenn sein Sohn heiratet, so die Sitte, darf das Haus renoviert werden. Mit 50 macht er seinen Führerschein. Die Nachbarn spotten. Sei er doch zu alt dafür. Er fährt langsam. So langsam, dass selbst die Vögel darüber lachen. Die Straße ist holprig und ungepflegt, seit Jahren nicht saniert worden. Er mag es. Er mag es aber nicht, wenn sein Sohn, der nun in der großen Stadt wohnt, ein Foto mit seinem Shouji macht. Ein Selfie. Den Sinn dahinter, will er nicht verstehen. Seine Frau leidet an einer mentalen Störung. Verhält sich wie ein Kind. Lacht wild. Nie hatte sie Bildung erhalten, ist  wurde irgendwann krank und nie wurde sie behandelt. Psychotherapeuten? Gibt es hier nicht. Und was das erst kosten würde! Li Xing schließt sich aus, steht grimmig vor dem Hoftor und streitet mit einem Nachbarskind im Hofinneren. Dann schreit sie, das halbe Dorf lacht. Sie lernte nie lesen, nie einen Pinsel in die Hand zu nehmen, hörte Stimmen und bekam Depressionen. Mitte 20 ging es damit los. Um die Kinder konnte sie sich nicht mehr kümmern. Hatte sie doch gerade erst gelernt für sich selbst zu sorgen. Sie wohnt lange Zeit allein. Ihren Sohn in der großen Stadt am Meer wird sie nie besuchen, mit einem Zug ist sie nie gefahren. Sie redet mit sich selbst. Sie lacht wie ein Kind. Sie ist nicht ganz beisammen sagt Bin Bin. Vielleicht hätte man sie heilen können. Vielleicht. Jetzt ist sie 56. Ihr ist nicht mehr zu helfen. An jedem Neujahrstag essen sie zusammen Li Xing und ihr Mann. Wie Mann und Frau, die sie einmal waren. Bin Bin zeigt mir Fotos. Jedes Neujahrsfest ruft der Vater seine Tochter an, die nicht bei ihnen sein kann, so die Sitte, weil sie nun eine eigene Familie hat. Der Sohn legt 1500 km im rauchigen K-Zug der untersten Preiskategorie zurück. Zwischen Hunden und knarrenden Bambusbänken. Er steht jeden Tag um 6 auf, lernt 2 Stunden Deutsch, 2 Stunden Englisch, treibt Sport, lernt dann für sein eigentliches Studium, Maschinenbau. Isst, lernt, chattet ein wenig und geht früh zu Bett. Irgenwann möchte er nach Deutschland reisen. Die Schwester hat nicht studiert. Einen Mann aus dem Dorf geheiratet. Der Vater sieht freundlich und zufrieden aus auf dem Foto inmitten des spärlich beleuchteten Raums. Umgeben von einer Wand aus robustem Stein, die eine feucht-frostige Kälte ausstrahlt. An der Wand prangt ein Poster der kommunistischen Partei. Wenig Schickschnack. Er lacht. In einer Hand das Telefon, kurz davor die Tochter anzurufen. Das Gesicht zeichnet tiefe Furchen. Die ledrige Haut, sonnenbraun-gegerbt von der Arbeit auf den Reisfeldern. Heute gibt es drei bis vier Fische, die sie selbst in Netzen gefangen haben. Was zu viel ist, wird auf eine Leine gehängt, gesalzen und getrocknet. Yu bedeutet Fisch. Yu bedeutet Reichtum. Er zeigt mir ein weiteres Foto. Ich sehe mehre Männer in ausgefransten Pullovern oder dicken, dunklen Daunenjacken, die fast größer sind als sie selbst und gigantisch an den zierlichen Körpern wirken. Ihre Wangen sind mit Ruß betucht. Sie halten Leuchtraketenstangen und stehen vor einem großen, dicken Holztor, von dem scharlachfarbige Bänder mit akurat geschwungenen Linien hängen. Heute spielt es keine Rolle, wie viel Reichtum man besitzt. Heute wird gefeiert und geteilt. Der Boden ist kieselig und von einer dünnen Eisschicht überzogen. Ein stechendroter Teppich aus Reispapier und Feuerwerkskörpern pflastert die Erde. Das ganze Dorf ist überschwemmt davon. Zwischendrin wächst raues Winterkraut. Im Hintergrund, ein paar lachende Kinder.

 

- nach einer Chinareise, 2017